»Halte durch, guter Baum«

Ralf Rothmann: Mit Wucht gegen das Verschweigen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Man sieht vor sich, was geschieht: wie in der Großküche Bohnensuppe gekocht wird; wie die alte Malerin sich müht, etwas Orange ganz oben auf ihr Bild zu tupfen; wie Lucilla, die junge Polin, einen gerade erst gefangenen Hecht schultert und Blut von ihrem Rücken tropft Man sieht das alles vor sich und wird es nicht vergessen. Überscharfe Bilder, Details in hellem Licht - der Blick konzentriert sich darauf, die Seele ruht ein wenig aus. Ob es nun schön ist oder hässlich, es ist immerhin Dasein. Die wirklichen Qualen kommen aus dem Totenreich: aus der Trauer, dem vergeblichen Sehnen, aus der Angst. - Wobei derjenige, der trauert, die Angst nicht mehr kennt. Fremd wird ihm all das Gewese. Wozu, sagt er sich. Davon eigentlich handelt der Roman: von den Schritten ins Freie (und Fremde), dem Kreuzweg. Es kann aufwärts gehen, doch es kann auch geschehen, dass einen die Kraft verlässt. Ganz plötzlich. »Kaum merklich, über Jahre, schleicht es sich ein. Man weiß nicht was. Mit spitzen Fingern zieht man die Folie ab, vorsichtig, als zöge man ein Häutchen vom Licht. Und plötzlich ist sie verschwunden, die sonst so helle Freude über das erste Birkengrün im Jahr, im Weiß des ersten Schnees Doch dann, nach Unzeiten, kommt sie wieder. Am Morgen nach der Heilung. Am Abend vor dem Tod.« Genau dieses Zitat war das Richtige für den Buchumschlag. Aber der Klappentext muss die Geschichte erzählen. Denn wer kauft schon die Katz im Sack. Und so erfahren wir gleich, dass Simon DeLoo eigentlich Kameramann ist, dass er nach dem Tod seiner Lebensgefährtin aber aus allen Zusammenhängen gerissen wurde und nun in einer Kreuzberger Großküche arbeitet, Essen ausfährt im »gewendeten Berlin«. Dass er in einer jungen Stadtstreicherin, der Polin Lucilla, glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen, dass er sie zu sich nimmt und dass sie sich entzieht. »... Und erst in ihrer Heimat, in der vor Hitze flimmernden Landschaft der Pommerschen Seenplatte, sieht er sie wirklich: Ihr Gesicht, "in dem es etwas Helleres gibt als Intelligenz", ihren Körper, der ihn verwirrt.« Wie würde man das Buch lesen, wenn man den Klappentext nicht kennen würde? Von DeLoos früherer Tätigkeit als Kameramann würde man nur nebenbei erfahren. Den Tod der geliebten Frau könnte man nur erahnen, daraus, wie DeLoo durch die verlassene Wohnung läuft, wo der Schrank noch voller Kleider hängt. Nicht mal dass es eine verlassene Wohnung ist, wird direkt gesagt. Von muffigem Geruch ist die Rede, von Staubflocken und braunem Wasser, das aus der Leitung kommt. Man spürt etwas Schweres, als ob die Zeit hier zum Stillstand gekommen wäre. All das, was unsagbar ist, teilt Ralf Rothmann auf andere Weise mit: wortlos. Die Wucht des Buches kommt aus dem, was verschwiegen wird. Ich beobachte, was Simon DeLoo sieht. Es mag scheinen, als ob er völlig gleichmütig wäre, denn der Autor sagt an keiner Stelle: Er war erschüttert, er war traurig oder auf einer Welle des Glücks. Man fühlt es im Moment nach und kann doch nicht ermessen, wie diese Gefühle im anderen Menschen zusammenkommen, welches Muster aus ihnen entsteht. Denn was war, vergeht nicht, solange ein Leben währt. Jeder Mensch - eine Welt für sich, unwiederholbar. »Halte durch, guter Baum« - die Zeile aus einem polnischen Lied eröffnet den Roman und erklingt immer wieder. Was kostet mehr Kraft - die Szene im Schlachthof oder die in der Imbissbude? Manchmal stöhnt man auf beim Lesen. Und muss sich doch still sagen: Das, was einen hier so erregt, war schon immer da, man hat sich nur abgewendet. Im Schnee stirbt ein Mensch, und eine Frau weigert sich, den Krankenwagen zu rufen: »Det jibt nur Schererein.« Da ist man empört. Aber im übertragenen Sinne geschieht so was jede Sekunde. Von DeLoo jedoch geht Güte aus - eine geschützte Güte, die sich nicht verströmt, die aber alle spüren. Eine reine Stirn. Wenn man diesen Roman liest, klingt in einem auf, was das heißt. Und eine Zeit lang glaubt man, dass so ein Mensch immer wieder neue Kraft schöpfen kann. Eine ganz besondere Geschichte, die jeden betrifft. De Loos alter Vater blickt uns mit den Augen eines Kindes an. »Weshalb nur , sagte er leise, fast flüsternd und legte die Hände vor sich hin, als gehörten sie ihm nicht. - Kannst du mir das erklären? Warum muß man ständig etwas tun und erreichen wollen? Kann man nicht einfach nur leben?« Eine Frau in einer Dahlemer Villa kurz vor ihrem großen Fest: »Es ist ja falsch zu glauben, daß man im Alter weniger empfindsam wird, Simon, daß einem die Dinge nicht mehr so nahgehen, oder? Das ist eine Lüge, die das Leben uns ins Herz legt, damit wir weitermachen. Immer weiter.« DeLoo auf die Frage, ob man eine Frau braucht, um glücklich zu sein: »Man ist vollständiger«, sagte er. »Aber glücklich Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es gar nicht so wichtig, glücklich ode...

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